Vorveröffentlichung aus dem Magazin: POSTREF PREREF, 2018/2019 – Publikation der Fachhochschule Dortmund, FB DESIGN, in Kooperation mit der DASA. Themenschwerpunkt „Crossmedia und die Zukunft der Szenografie“. Unter der Leitung von: Prof. Lars Harmsen und Dipl. Ing., M.A. Alesa Mustar. Erschienen: Ende Januar 2019
(Eine Link-Liste mit den im Artikel vorgestellten Projekten findet sich hier: http://virtualspatialsystems.com/pw-links/ )
Nachdem sich der anfängliche Hype um Virtual Reality beruhigt hat, sind die teilweise unrealistischen Erwartungen einer gewissen – positiv zu bewertenden – Nüchternheit gewichen, die einen objektiven Blick auf die Zukunft der Technologie ermöglicht und erkennen lässt, in welchen Formen sich Virtual Reality zukünftig in unsere Medienlandschaft eingliedern wird.
Virtual Reality wird – anders als das Smartphone oder in Zukunft vielleicht Augmented Reality – nicht unbedingt zu einer integralen Technologie unseres Alltags, sondern viel mehr dann relevant, wenn wir aus dem Gewohnt-alltäglichen heraus in eine andere Welt treten wollen. So bieten Kunst, Kino und Theater in ihren aktuellen Erscheinungsformen die Möglichkeit das Gewohnte zu verlassen und auch Museen und Ausstellungen sind – für einen Großteil ihrer Besucher – nicht Teil des Alltags sondern bilden künstliche Erlebnisräume, räumlich erlebbare Parallelwelten. Durch den Einsatz von Virtual Reality kann das Eintauchen in diese Parallelwelten bis hin zu einer fast vollständigen Simulation, gesteigert werden.
Während die Technologie ihren Kinderschuhen entsteigt, machen bereits immer mehr Künstler- und Gestalter*innen ihre Inhalte und Werke in Virtual Reality erfahrbar. Dabei wird die Technologie nicht nur als medial-gestalterisches Werkzeug genutzt, sondern wird selbst zum eigenständigen künstlerischen Medium. Auch immer mehr Museen erkunden die Einsatzmöglichkeiten von VR in Ausstellungen oder als ergänzende Angebote. Dabei ist jedes Projekt noch prototypisch und jeder Akteur noch Pionier.
Künstler*innen und Kollektive
Insbesondere im künstlerischen Einsatz von VR zeichnen sich Möglichkeiten der Technologie ab: so entstehen stark immersive Räume, in denen sich die Nutzer aus ihrer gewohnten, beobachtenden Position lösen und selbst zum Teil – oder sogar Mittelpunkt – der Inszenierung werden.
Dies geschieht methodisch durch verschiedene, teils aus Literatur, Film und Game Design bekannte Mechanismen, wie der Wechsel in die Ego-Perspektive, das “Embodiment”, also die Verkörperung des Protagonisten und die damit einhergehende „Presence” innerhalb der virtuellen Welt. So übernimmt der Benutzer in “In the Eyes of the Animal”, des Londoner Kollektivs Marshmallow Laser Feast die interpretierte Wahrnehmung einer Eule oder einer Kröte oder wird in “Here We Are – A Turing Torture” von The Swan Collective zur künstlichen Intelligenz auf dem Prüfstand. Die Grenzen zwischen dem eigenen Körper und der wahrgenommenen virtuellen Präsenz verschwimmen.
In der Arbeit “HanaHana” der Künstlerin Mélodie Mousset findet eine andere Form der Immersion statt: der Betrachter ist nicht nur Protagonist des Erlebten, sondern gestaltender Akteur. Mit den Controllern kann man auf jeder Oberfläche Hände herauswachsen lassen und damit surreale Skulpturen in die Wüstenlandschaft zeichnen. Dieser kreative Schaffensprozess wird zu einer Form der Meditation. Im Game Design spricht man davon, einen Spieler “In the Zone” zu bringen: in einen Bewusstseinszustand der mental-geistigen Konzentration und körperlichen Immersion, die durch die räumliche Bewegung des eigenen Körpers und den Einsatz des Controllers als “virtuellen Pinsel” hervorgerufen wird.
Der Körper spielt auch bei Bianca Kennedys “VR all in this together” eine entscheidende Rolle: Erst nach dem Einstieg in die mit Kunststoffbällen gefüllte Badewanne lässt sich die virtuelle Erfahrung eines gemeinsamen Bades richtig geniessen. Die räumliche Inszenierung als Rahmen dient dabei zur Einstimmung auf das Erlebnis und erschafft einen sicheren Raum für den Betrachter.
Physische Ausstellungsorte virtueller Kunst
Die genannten Werke von Mélodie Mousset und The Swan Collective waren Teil der Ausstellung “Mixed Realities” im Kunstmuseum Stuttgart. Auch hier wurden die Fragestellungen der räumlichen “Einrahmung” deutlich: Wie kann man das Virtuelle im Raum inszenieren? Wie erscheint der Nutzer, der entrückt nicht mehr seiner Umgebung bewusst ist, den Außenstehenden? Muss man ihn dabei schützen und ihm einen Privatraum geben? Was sehen diejenigen die auf eine freie VR-Brille warten? Und wie sieht die Installation aus, wenn niemand die Brille trägt?
Wie aufwendig die jeweilige physische Inszenierung sein muss, hängt stark von der Erfahrung und der gewünschten Aktivierung des Betrachters im virtuellen Raum ab. Wird man auf eine geführte Reise genommen und nimmt dabei eher eine betrachtende Rolle ein, reicht eine Einstimmung auf das Erlebnis. Bewegt man sich aber körperlich oder interagiert sogar mit dem Kunstwerk, braucht es eine räumliche Abgrenzung von denen die sich im VR-Raum befinden und den übrigen Ausstellungsbesuchern – auch zum beiderseitigen Schutz vor Verletzungen: denn der stoffliche Raum und die sich darin bewegenden Menschen bleiben für den Nutzer der VR meist unsichtbar.
Die Frage, wie sich virtuelle Kunst ausstellen lässt, beschäftigt auch den Galeristen George Vitale. Seine Galerie Synthesis stellt vornehmlich VR Kunst aus – die aber auch immer eine Repräsentation im stofflichen Raum hat. Dabei gibt es Tänzer, die zu einem VR Stück performen, Poeten und Klangkünstler die ihre Stücke akustisch begleiten oder Malerei und Objekte, die die virtuellen Werke in den Raum hinein erweitern.
Erforschung von VR in Ausstellungen und Museen
Wie das Medium jenseits der Kunst in Ausstellungen und Museen eingesetzt werden kann, wird unter anderem im Verbundprojekt museum4punkt0 untersucht. Hier arbeiten unterschiedliche Kultureinrichtungen daran, neue Einsatzszenarien für moderne Technologien zu entwickeln und so ihre Sammlungen zugänglicher zu machen und in einen verstärkten Austausch mit den Besuchern und Besucherinnen zu treten.
In diesem Zusammenhang untersucht das Team des Deutschen Auswandererhauses die emotionale Reichweite virtueller Exponate und stellt sich die Frage ob Empathie digital vermittelt werden kann. In der Ausstellung “Kriegsgefangen. Ohnmacht. Sehnsucht. 1914 – 1921” sind bestimmte Ausstellungsstücke sowohl virtuell, als auch im Original vorhanden. In einer Studie werden die Besucher zu ihren Eindrücken und Erinnerungen befragt: Haben Probanden, die den digitalen Teil gesehen haben, die Ausstellung anders erlebt als Probanden, die im inhaltsgleichen analogen Teil waren? Aus den bislang ausgewerteten Befragungen lässt sich feststellen, dass die Bandbreite der von den Probanden empfundenen Gefühle ist bei den VR-Anwendungen größer ist. Dafür wird in den inhaltsgleichen analogen Räumen größeres Mitleid mit dem Schicksal des in Kriegsgefangenschaft geratenen Soldaten empfunden. Eigene Beobachtungen aus ähnlichen Projekten lassen vermuten, dass die Kombination eines Original-Exponats mit seiner inhärenten Aura auf der einen Seite und einer Kontextualisierung durch eine VR Erfahrung auf der anderen Seite eine besonders starke Identifikation mit dem ausgestellten Objekt zulässt.
Einen anderen Aspekt der Virtualisierung von Objekten untersucht das Deutsche Museum in seinem “VRlab” unter der Leitung von Georg Hohmann. Digitale 3D-Modelle und 3D-Visualisierung erlauben es, die Arbeitsweise, den Aufbau und die Materialbeschaffenheit von Exponaten detailgenau darzustellen und zu erklären. Reale Objekte werden im Virtuellen Raum durch ihre maßstäblich rekonstruierten und digital animierten Modelle zum virtuellen Leben erweckt und so erfahrbar und in ihrer Funktionsweise verständlich gemacht. Zum Beispiel kann man sehen, wie sich die Sulzer Dampfmaschine durch das Zu- oder Abschalten von Spinnmaschinen selbst reguliert. Und im Kernstück des VR-Labors, dem Lunar Roving Vehicle Fahrsimulator, kann die Oberfläche des Mondes erkundet werden.
Besucher als Entdecker unerreichbarer Orte
Solche virtuelle Reisen an Orte, die für die wenigsten oder niemanden zu erreichen sind, gehören zu den Erzählformen, für die sich die Technologie besonders eignet. Zum Beispiel erkundet man im Senckenberg Museum für Naturkunde Görlitz, um das Zweihundertfache auf die Größe einer Landassel verkleinert, die Welt zu unseren Füßen. Oder man bereist auf einem futuristischen Fliegendem Teppich archäologische Ausgrabungsstätten, so wie bei der VR-Anwendung die der Autor dieses Artikels für das Emirat Sharjah entwickelt hat (mehr dazu). Virtual Reality ermöglicht ein Reisen durch die Geschichte. Sie kann Zeitabläufe beschleunigen oder abbremsen und so Ereignisse erlebbar machen, die aufgrund Ihrer zeitlichen Dimension sonst nicht wahrnehmbar wären. Die Technologie kann so unsichtbares sichtbar machen und den Besucher in die Welt zwischen Mikro- und Makrokosmos befördern.
Vermischte Realitäten
Wie sich eine solche Reise an einen fernen Ort in einer Vergangenen Zeit mit der physischen Präsenz im Hier und Jetzt verbinden lässt, zeigt der Showcase “Caveman VR” der Kreativagentur TRIAD. Ein Holzstock, dessen Position im realen Raum erfasst wird, dient als Fackel, mit der eine steinzeitliche Höhle beleuchtet wird, ein elektrischer Heizstrahler am Boden simuliert die Wärme eines Lagerfeuers. Ein solcher Heizstrahler kommt auch in der “X-Ray Fashion VR”-Experience vor und simuliert hier die widrigen Arbeitsbedingungen, die in den Ausbeutungsbetrieben der Textilindustrie in Schwellen- und Entwicklungsländern vorherrschen. Neben der, in der Virtuellen Realität üblichen Bedienung der visuellen und akustischen Sinnesorgane, liegt hier ein besonderes Augenmerk auf taktile Wahrnehmung: Während man barfüßig die unterschiedlichen Kapitel der virtuellen Inszenierung durchschreitet und die Augen die überfluteten Slums Manilas, die Baumwollfeldern Indiens oder eine Einkaufsmall sehen, baden die Füße abwechselnd in Wasserbecken, gehen durch einen Feld bauschiger Baumwollfasern oder über kalten Marmor. Die Immersion eines virtuellen Erlebnisses und die Stärke der vermittelten Emotion lassen sich durch den Einsatz zusätzlicher sensorische Reize verstärken: es entsteht eine “Augmentierte” Virtuelle Realität.
Multiplayer
Eine Schwierigkeit beim Einsatz Virtueller Realität im musealen Kontext ergibt sich aus der zahlenmäßigen Einschränkung der Nutzer und ihrer Abkanzelung voneinander und aus der realen Umgebung. Obwohl sich durch die stetige Weiterentwicklung der Technologie neue Lösungen abzeichnen, bestimmen Inhalt und Vermittlungsziel zur Zeit noch sehr stark die benötigte Hardware und damit die maximale Nutzerzahl. Bei dem gleichzeitigen und gemeinsamen Erleben eines 360-Grad-Filmes sind mittlerweile über vierhundert Nutzer und der Einsatz von relativ einfachen und kostengünstigen Brillen möglich. Wenn die Nutzer sich aber im virtuellen Raum gegenseitig sehen und miteinander interagieren sollen, schrumpft ihre Zahl drastisch und es wird – nach aktuellem Stand – noch für jeden ein komplettes VR-System inklusive eines leistungsstarken Computers benötigt. Insbesondere die Entwicklung von Multiuser-Experiences ist sehr komplex und damit wesentlich kostspieliger als 360-Grad-Filme oder Anwendungen die nur für einzelne Nutzer gedacht sind. Eine weitere Entwicklung besteht in der die Einbindung eines externen Publikums das, zum Beispiel durch konventionelle Interfaces wie Tablets, Einfluss auf das VR-Erlebnis hat.
Die Aufgaben der Szenografie im virtuellen Raum
Die Vielschichtigkeit des Mediums und seine unterschiedlichen Einsatzmöglichkeiten bedeutet eine Vielzahl von szenografischen Herausforderungen. Neben gestalterischen und inszenatorischen Aufgaben innerhalb der Virtuellen Welt stellt sich die grundlegende Frage wie Storytelling in virtuellen narrativen Räumen funktioniert. Zusätzlich muss auch das Erscheinungsbild der VR-Installation im physisch realen Raum gestaltet und die virtuelle Erweiterung des Ausstellungsraums in ihren Kontext eingebettet werden. Und so wie eine klassische Ausstellung konzipiert, kuratiert, gestaltet und letzten Endes gebaut wird, muss eine virtuelle Ausstellung in gleicher Weise konzipiert, kuratiert, gestaltet und am Ende – in Form von Code – gebaut werden.